Masterarbeit
Die Problematik der Abgrenzung von Arzneimitteln und Medizinprodukten - Die pharmakologische Wirkung als Schlüssel zur Abgrenzung?
Dr. Esther Schwich (2025)
Zusammenfassung
Sprache: Deutsch
Die vorliegende Arbeit untersucht die komplexe Abgrenzungsproblematik zwischen Arzneimitteln (AM) und Medizinprodukten (MP) mit besonderem Fokus auf die pharmakologische Wirkung als zentrales Unterscheidungskriterium. Die Untersuchung deckt einen fundamentalen Paradigmenwechsel auf: die zunehmende Konvergenz zwischen wissenschaftlicher Pharmakologie und europäischer Rechtsprechung.
Obwohl beide Produktkategorien im europäischen Rechtsrahmen klar definiert sind – AM durch die Richtlinie 2001/83/EG und MP durch die Verordnung (EU) 2017/745 (MDR) – existiert in der Praxis eine erhebliche Rechtsunsicherheit bei der Klassifizierung von Grenzprodukten. Diese Unsicherheit resultiert primär aus der unzureichenden Definition der pharmakologischen Wirkung, die als Hauptunterscheidungsmerkmal dient: Während AM primär durch pharmakologische, immunologische oder metabolische (PIM) Mechanismen wirken, dürfen MP ihre Hauptwirkung nicht durch solche Mechanismen erzielen.
Durch eine systematische Analyse des europäischen Rechtsrahmens, relevanter Rechtsprechung und wissenschaftlicher Literatur wurde eine bemerkenswerte Konvergenz zwischen wissenschaftlicher Definition und rechtlicher Auslegung der pharmakologischen Wirkung identifiziert. Die wissenschaftliche Definition basiert auf Pharmakodynamik und Pharmakokinetik und umfasst Interaktionen mit Rezeptoren, Enzymen, Membranträgerproteinen und Ionenkanälen, hat die europäische Rechtsprechung diese Erkenntnisse systematisch aufgegriffen und integriert. Das jüngste EuGH-Urteil vom März 2025 zur D-Mannose verdeutlicht diese wissenschaftlich fundierte Rechtsprechung durch die Klassifizierung reversibler Bindungen als pharmakologische Wirkung. Diese rechtliche Interpretation stellt keine Divergenz zur Wissenschaft dar, sondern eine wissenschaftlich fundierte Präzisierung.
Die Medizinprodukteverordnung (MDR) etabliert mit Regel 14 eine fundamentale Verschiebung der Beweislast auf Hersteller, die eindeutig belegen müssen, dass ihr Produkt keine PIM Wirkung aufweist oder diese nicht der primäre MoA darstellt. Diese Regelung ist epistemologisch problematisch, da der Nachweis einer "Nicht-Wirkung" methodisch schwierig ist. Moderne Analytik macht praktisch jeden Stoff systemisch nachweisbar, wodurch die Unterscheidung zwischen analytischer Nachweisbarkeit und regulatorischer Relevanz zentral wird.
Das Salicylsäure-Beispiel exemplifiziert die Abgrenzungsproblematik durch seinen dualen MoA: keratolytisch-mechanistisch bei niedrigen Konzentrationen, pharmakologisch-systemisch bei höheren Konzentrationen. Die aktuelle regulatorische Praxis zeigt jedoch erhebliche Inkonsistenzen: Hühneraugenpflaster mit 40% Salicylsäure werden als MP zugelassen, während Präparate mit deutlich niedrigeren Konzentrationen der AM-RL unterliegen.
Die Arbeit schlägt einen Paradigmenwechsel von monokausaler zu multifaktorieller Bewertung vor. Die Adaptation des Threshold of Toxicological Concern (TTC)-Konzepts bietet einen vielversprechenden Ansatz mit strukturbasierten Schwellenwerten. Zusätzlich ermöglichen physiologisch-basierte pharmakokinetische (PBPK) Modelle die Vorhersage systemischer Exposition ohne aufwändige klinische Studien.
Ein differenzierter Ansatz sollte primären MoA, systemische Bioverfügbarkeit, Dosis-Wirkungs-Beziehung, Anwendungskontext und Sicherheitsprofil gleichberechtigt berücksichtigen. Die Frage ist nicht binär "pharmakologisch oder nicht", sondern "welche Wirkungskomponenten sind vorhanden und wie gewichten sie sich zueinander?"
Das D-Mannose-Urteil stellt die Existenz vieler stofflicher MP grundsätzlich in Frage. Die Transformation von MP zu AM führt zu erheblich höheren Entwicklungs- und Zulassungs-kosten.
Die pharmakologische Wirkung ist als wissenschaftliches Fundament geeignet, als alleiniges Abgrenzungskriterium jedoch unzureichend. Die wissenschaftlich fundierte Rechtsprechung führt paradoxerweise zu verstärkter regulatorischer Unsicherheit, da die ausschließliche Fokussierung auf pharmakologische Wirkung die Komplexität multimodaler Wirkmechanismen ignoriert.
Der notwendige Paradigmenwechsel erfordert eine multifaktorielle Bewertung, die Wirkungsspektrum, Anwendungskontext, therapeutische Intention und Expositionsparameter integriert. Die wissenschaftlich-rechtliche Konvergenz ist erreicht – der Fokus muss nun auf der praktikablen Implementierung wissenschaftlich fundierter Bewertungsalgorithmen liegen, die proportionale regulatorische Anforderungen entsprechend dem tatsächlichen Risikoprofil definieren.
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